Ruhe ist so ziemlich das Letzte, wofür argentinische Fußballstadien bekannt sind. Im Estadio Juan Carmelo Zerillo gab es am Dienstag, kurz vor dem Anpfiff, jedoch diesen einen Moment. Den Moment, in dem das Trommeln abbrach und die Gesänge fast verstummten. Auch die Spieler verzichteten auf letzte Motivationsgesten. Stattdessen bewegten sie sich zum Mittelkreis. Die Profis der Heimmannschaft, Gimnasia y Esgrima La Plata, stellten sich in Form einer Eins auf, die Gäste vom Club Átletico Talleres aus Córdoba bildeten direkt daneben eine Null – „El Diez“, die Zehn. Gemeint war natürlich Diego Armando Maradona, der wohl berühmteste Zehner in der Geschichte des Fußballs.
Auch wenn sie ihrem Diego in Argentinien seit Jahrzehnten unablässig huldigen, war diese Geste etwas Besonderes. Denn sie kündigte den ersten Todestag Maradonas an. Vor genau einem Jahr, am 25. November 2020, ist der Unsterbliche gestorben. „Ich bin der Meinung, dass dieser Tag kein Tag für Ehrungen ist, geschweige denn ein Tag zum Feiern“, hat Maradonas Tochter Dalma vor Kurzem gesagt. Doch hält sich daran niemand.
Die Szenen beim Erstligaspiel in La Plata, Maradonas letzter Trainerstation, machten den Anfang. Nun schwappt eine regelrechte Welle der Huldigungen über das Land. Insbesondere in den Stadien kommt es zu großen Aktionen, so wird in jeder der Canchas ein anrührendes Video laufen – unterlegt mit einem Song, der extra für diesen Anlass komponiert wurde. „Das erste Jahr vom Rest unseres Lebens…“, verkündet ein Schriftzug zu Beginn des Clips. Dann setzt die Musik ein, dann wird es emotional – und etwas kitschig. „Eines Tages ist das Spiel vorbei“, singt Musiker Carlos Damiano den Refrain, „und ich weiß einfach nicht – wie ist das passiert?“
„Ich habe ihn geliebt und zugleich gehasst“
Gute Frage. Wie ist das eigentlich passiert? Wie kann es sein, dass einem wie Maradona solch ungetrübte Liebe entgegenschlägt? Immerhin ist sein Leben alles andere als ein Siegeszug gewesen. Es gab viele Tiefen, von denen Maradona die meisten selbst verschuldet hat. Drogen, Festnahmen, zweifelhafte politische Aktivitäten. Nicht umsonst haben die Medienriesen Amazon Prime und Spotify dem Leben und Sterben von „El Pelusa“, dem Fussel, kürzlich ausführliche Produktionen gewidmet. Und auch heute gibt es noch neue Anschuldigungen, die es in sich haben. Am schwersten wiegen die, die Mavys Álvarez, eine Ex-Freundin Maradonas, vor wenigen Tagen erhoben hat.
„Ich habe ihn geliebt und zugleich gehasst“, sagte die Kubanerin auf einer Pressekonferenz in Buenos Aires. Sie sei als 17-Jährige von Maradona vergewaltigt worden und habe zu dieser Zeit mehrfach darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Álvarez nannte weitere Details aus ihrer Zeit mit dem Weltstar, Gewalt spielt dabei immer wieder eine Rolle. Insgesamt zeichnen die Berichte der heute 37-Jährigen das Bild eines Mannes, der vieles verdient hätte, doch sicher keine unablässigen Huldigungen.
Es schwingt also etwas Bedrückendes mit, wenn Maradona dieser Tage geehrt wird. Ehrungen, die weit über Argentinien hinausreichen. In Neapel, wo der „Pibe de Oro“, der Goldjunge – ein weiterer seiner vielen Spitznamen –, ebenfalls abgöttisch geliebt wird, soll heute eine Statue enthüllt werden. Die Tageszeitung Il Mattino bringt eine Ausgabe mit dem Titel „Maradona lebt“ heraus. Der Fernsehsender RAI berichtet in Sondersendungen. Dahinter steckt natürlich mehr als die Anerkennung für einen kleinen, genialen Fußballer, der den Menschen mit seinen Toren einmal Freude bereitete.
Maradona ist Teil der Geschichte – auch der düsteren
In Neapel wie in Argentinien stand D10S, angelehnt an das Wort Gott und die Rückennummer zehn, für nicht weniger als die Hoffnung. Den Süditalienern brachte Maradona Ende der Achtziger die beiden ersten und einzigen Meistertitel, die für den sportlich und politisch abgehängten italienischen Süden große Symbolkraft besaßen. Millionen von bettelarmen Argentiniern brachte der aus einer sozial benachteiligten Bevölkerungsschicht stammende Maradona noch mehr: den Glauben, es nach oben schaffen zu können. „Du hast Neapel und die Weltmeisterschaft erobert. Du hast ein armes Schicksal besiegt“, heißt es in dem Lied, das heute in den Stadien läuft.
Es geht also um Tiefsitzendes, um Gefühle. Maradona ist Teil der Geschichte vieler Menschen und wird damit deutlich älter werden als die 60 Jahre, die er offiziell lebte. Doch darf deswegen über seine gravierenden Fehler hinweggesehen werden? Gerade, weil so schwere Verbrechen wie eine Vergewaltigung im Raum stehen, ist die Antwort eindeutig. Sie wirft einen dunklen Schatten auf die Ehrungen, die gerade vielerorts stattfinden und bei denen nur Platz für all den triefenden Pathos ist. Nicht aber für das Schicksal der Menschen, in deren Geschichte Maradona eine grauenhafte Episode darstellt.
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